Von Okko tom Brok.
An einem schicksalsträchtigen 31. Oktober, während die Welt am Rande des Chaos irrlichterte und die Mächtigen ihrer Zeit in banger Sorge verharrten, geschah es: Aus dem Schatten der Geschichte tauchte ein bis dato unscheinbarer Unbekannter auf und veröffentlichte eine Schrift, die dazu geeignet erschien, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern und die Menschheit für lange Zeit in Atem zu halten.
Wenn Sie meinen, es handele sich um Martin Luther und seine berühmten 95 Thesen, die er der Legende nach am 31. Oktober 1517 mit schweren Hammerstößen an die Pforte der Wittenberger Schlosskirche genagelt haben soll, liegen Sie sogar fast richtig. Aber eben nur fast.
An dieser Stelle ist stattdessen zunächst die Rede von Satoshi Nakamoto, dem geheimnisvollen Erfinder der Digitalwährung Bitcoin. Satoshi Nakamoto. Dieser mysteriöse Krypto-Crusader, dessen echter Name so geheim ist, dass selbst sein Pseudonym ein Pseudonym zu sein scheint, legte vielleicht ganz unabsichtlich und doch irgendwie bezeichnend – sein digital-kryptisches Manifest am 31.10.2008, mitten in der Bankenkrise, auf den Tisch. So, als würde er mit einem Augenzwinkern sagen: „Ihr könnt eure Bankenkrise behalten, ich bringe euch eine ganz neue Art von Währung.“
Seine epochale, im englischen Original gerade einmal knapp 8 Seiten umfassende Schrift, das Bitcoin-Whitepaper, verbreitete sich ebenso schnell in verschiedensten Sprachen wie die reformatorischen Schriften des jungen Augustinermönchs Martin Luther, mit dem Nakamoto auch sonst einige bemerkenswerte Parallelen aufweist.
Faszinierende Gemeinsamkeiten
Nachdem das Projekt Bitcoin von einer hochmotivierten Community digitaler Nerds aufgenommen wurde, überließ Satoshi Nakamoto die weitere Entwicklung des Bitcoin-Protokolls anderen und verschwand aus der Öffentlichkeit. Es gibt bis heute viele Spekulationen darüber, wer sich hinter diesem Pseudonym eigentlich verberge, aber die wahre Identität von Satoshi Nakamoto bleibt ein undurchdringliches Geheimnis. Nakamotos eigene rund 1 Millionen Bitcoins wurden seit seinem Verschwinden nicht mehr bewegt, und manche sprechen in diesem Zusammenhang in durchaus religiöser Metaphorik von einer „unbefleckten Empfängnis“: Ein Mann erschafft ein digitales Milliardenvermögen und hat die übermenschliche Standhaftigkeit, es nicht zu seinem persönlichen Vorteil einzusetzen. Auch Martin Luther musste infolge seiner Publikationen für einige Zeit aus der Öffentlichkeit fliehen und als Junker Jörg auf der Wartburg bei Eisenach Schutz vor dem sicheren Tod suchen. Seine persönlichen Belange und sein Ansehen in der Öffentlichkeit waren ihm zweitrangig.
Die Bewegung von Bitcoin und die christliche Reformation haben zwar vollkommen unterschiedliche historische Kontexte und Ziele, weisen jedoch einige höchst faszinierende Gemeinsamkeiten auf.
Die christliche Reformation, die im 16. Jahrhundert begann, war eine tiefgreifende religiöse Reformbewegung, die die katholische Kirche spaltete und zu einer Vielzahl von protestantischen Konfessionen führte. Martin Luther, Johannes Calvin und andere Reformatoren forderten die bestehende religiöse Hierarchie heraus und betonten die persönliche Beziehung zu Gott, die durch den Glauben und die Bibel vermittelt werde.
Ähnlich dazu ist Bitcoin seit 2008 dabei, eine Art „Finanzreformation“ auszulösen, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Diese digitale Währung, die in den Nullerjahren noch zum Taschengeldpreis zu haben war und zunächst als Spielgeld weltfremder Computerfreaks belächelt wurde, erklimmt nach einigen Rückschlägen immer neue Höchststände und liegt aktuell bei rund 32.000 EUR pro Bitcoin. Ein Ende der Bullrun ist Branchenkennern zufolge nicht abzusehen, seitdem selbst der renommierte Vermögensverwalter BlackRock in das Geschäft des Bitcoin-Minings eingestiegen ist und sogar einen eigenen Bitcoin-ETF anpeilt. Damit würde der Bitcoin als börsennotiertes Wertpapier an der Wall Street handelbar. Das Lachen über den Bitcoin ist den einstigen Spöttern jedenfalls schon längst vergangen. Kurssprünge auf 100.000 Euro oder deutlich mehr erscheinen längst nicht mehr ausgeschlossen.
Die wichtigsten Merkmale
Was ist überhaupt der Bitcoin? Als dezentrale Währung, die unabhängig von traditionellen Finanzinstitutionen und Zentralbanken existiert, basiert der Bitcoin auf einer innovativen Technologie, die als Blockchain bezeichnet wird. Die Bitcoin-Blockchain ist ein öffentliches, auf zigtausende Computer weltweit verteiltes „Kassenbuch“, das alle Transaktionen in der Geschichte von Bitcoin aufzeichnet und „auf alle Ewigkeit unverfälscht aufbewahrt"“ (I. Mangold). Diese Transaktionen werden von einem Netzwerk von Hochleistungs-Computern (Minern) verifiziert und gesichert. Manipulationen sind nahezu ausgeschlossen. Bitcoin-Transaktionen sind pseudonym, jedoch nicht anonym, wie oft fälschlich geschrieben wird, da sie zwar nicht unbedingt mit realen Identitäten verknüpft sind, aber mit eindeutig zuzuordnenden Kryptowährungs-Adressen.
Einige der wichtigsten Merkmale von Bitcoin sind:
- Dezentralisierung: Bitcoin wird von einem globalen Netzwerk von Computern betrieben, wodurch es resistent gegen zentrale Kontrolle ist. Ebenfalls entfällt das sog. Drittparteienrisiko, das normalerweise entsteht, wenn finanzielle Transaktionen zwischen zwei Parteien von einem Geldinstitut (der „Drittpartei“) abgewickelt werden.
- Begrenzte Versorgung: Die maximale Anzahl an Bitcoins, die jemals geschaffen werden können, ist auf 21 Millionen begrenzt, was die Inflation begrenzt. Der letzte Bitcoin wird voraussichtlich erst im Jahr 2140 „geschürft“.
- Sicherheit: Die Bitcoin-Blockchain verwendet eine sehr wirksame Kryptographie, um Transaktionen zu schützen, und bietet ein hohes Maß an Sicherheit.
- Transparenz: Alle Bitcoin-Transaktionen sind auf der öffentlichen Blockchain sichtbar, was eine gewisse Transparenz gewährleistet. Nicht einmal Gold, mit dem Bitcoin oft verglichen wird, weist dieselbe Transparenz auf, denn wer vermag schon die Goldreserven der Zentralbanken tatsächlich zu überprüfen?
- Pseudonymität: Bitcoin-Transaktionen sind nicht zwangsläufig mit realen Identitäten verbunden, was anders als geplante Kryptowährungen der staatlichen Zentralbanken wie der digitale Euro eine gewisse Privatsphäre bietet.
Aufgrund seiner o.g. Merkmale stellt Bitcoin die herkömmlichen Finanzinstitutionen radikal infrage, indem er die Dezentralisierung und die Befreiung von zentralisierten Banken und Regierungen zugunsten einer dezentralen, transparenten und unveränderlichen Blockchain-Technologie fördert.
In der Bitcoin-Community gibt es keine offizielle Entsprechung zu dem evangelisch-reformatorischen Grundsatz des von Martin Luther geforderten „Priestertums aller Gläubigen“. Dieser Grundsatz aus der Reformation betont die Idee, dass jeder Gläubige das Recht und die Verantwortung habe, direkt mit Gott zu kommunizieren und die Bibel selbst zu lesen und zu interpretieren, ohne auf kirchliche Vermittlung durch Päpste oder Priester angewiesen zu sein.
Der Bitcoin-Nutzer behält die Kontrolle
In der Welt der Krypto-Währungen, insbesondere bei Bitcoin, gibt es jedoch eine ähnliche Idee der Dezentralisierung und individuellen Verantwortung. Das Grundprinzip von Bitcoin ist es, die Macht und Kontrolle über finanzielle Transaktionen von zentralisierten Institutionen wie Banken und Regierungen wegzunehmen und stattdessen in die Hände der Benutzer zu legen. Jeder Bitcoin-Nutzer hat die Verantwortung, seine eigenen digitalen Gelder sicher in seiner eigenen Wallet zu verwalten und zu schützen, da es keine zentrale Stelle gibt, die dies für ihn tun kann. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Idee von Bitcoin als „Priestertum aller Nutzer“ verstanden werden könnte, wobei jeder Nutzer die Kontrolle über seine finanziellen Angelegenheiten hat und selbst verantwortlich ist.
Das von Martin Luther gepredigte Ideal der unmittelbaren Beziehung jedes Gläubigen zu Gott entwickelte sich rasch von einem spirituellen Leuchtturm zu einer sozialrevolutionären Fanfare. Einmal gestartet, hatte es etwa denselben Effekt wie das Anzünden eines Feuerwerks in einer Bibliothek – plötzlich befanden sich alle im Rampenlicht, und der Ruf nach sozialer Gleichheit klang lauter als je zuvor. Dieser Gedanke brachte nicht nur die Gemüter zum Brodeln, sondern legte auch den Grundstein für den Bauernkrieg und die unaufhaltsame Forderung nach sozialer Gerechtigkeit.
In ganz ähnlicher Weise wurde die bankenunabhängige Digitalwährung Bitcoin besonders in Ländern der sog. Dritten Welt schnell als Instrument der sozialen Emanzipation erkannt. Unter der Formel „banking the unbanked“ gewinnt der Bitcoin besonders in finanziell schwachen, von hoher Inflation gebeutelten Ländern wie Zimbabwe, Nigeria oder Argentinien immer mehr Anhänger, wo Menschen ohne Bankkonto erstmals in die Lage versetzt werden, finanzielle Transaktionen auf der Basis des Bitcoin durchzuführen. Selbst wer keinen „Full Coin“ besitzt, kann doch für kleines Geld einen „Satoshi“ (SAT), die kleinste Untereinheit des Bitcoin, erwerben und damit Zahlungen tätigen. Ein Satoshi entspricht einem Millionstel Bitcoin, und 10.000 Satoshi sind aktuell 3,23 EUR wert (Stand: 28.10.23).
Bitcoin demaskiert Fiat-Geldsystem als wertlos
Martin Luthers reformatorischer Kampf galt insbesondere dem sog. Ablasswesen, jenem „Vollkasko-Versprechen aufs Jenseits“ (M. Achhammer), mit welchem die römisch-katholische Kirche ihre Gnadenzusagen zu materialisieren und gewinnbringend zu veräußern suchte. Luthers Vorwurf lautete: reinster Betrug! Die Ablassbriefe, die der Dominikanerpater Johann Tetzel unters Volk brachte, waren Luthers Auffassung nach nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben waren.
In deutlicher Analogie dazu demaskiert auch der Bitcoin die komplette Wertlosigkeit des bestehenden Fiat-Geldsystems, das seit 1971 nicht mehr durch den Goldstandard gedeckt wird und bei Bedarf und auf Wunsch in beliebiger Menge nachgedruckt werden kann. Alleine in der Eurozone hat sich die Geldmenge seit der Bankenkrise fast verdoppelt (2008: 9.402 Mrd. EUR, 2023: 16.022 Mrd. EUR). Eng gekoppelt an die schleichende Geldentwertung durch diese „magische“ Vervielfältigung ist die nicht mehr in realistischen Zeiträumen zurückzahlbare Nettoverschuldung der Staaten, die alleine in Deutschland zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes bei 2.496.450.667.005 EUR lag und einer sekündlich um ein Monatsgehalt ansteigenden Summe von 3.817 EUR entspricht, was zusätzlich in erheblichem Maße zur Entwertung unseres Geldes auf dem Konto beiträgt.
Wie die Reformation die Gläubigen aufforderte, „ad fontes“ (zu den Quellen) zurückzukehren, die man in erster Linie in der unverfälschten, von Luther 1522 ins Deutsche übersetzten Bibel sah, so stellt die „Bitcoin-Reformation“ ebenfalls einen Weckruf dar, sich in einer der grundlegendsten Angelegenheiten des Lebens, dem Geld, wieder auf „echte“, limitierte Werte zu besinnen und dem gefährlichen Betrug des Fiat-Geldes nicht länger aufzusitzen.
Ungeahnte Chancen
Eine letzte hier in den Blick zu nehmende Parallele zwischen beiden Bewegungen ist die Idee der „Erlösung“. Während die Reformation die Erlösung durch den Glauben proklamierte, ermöglicht Bitcoin finanzielle Unabhängigkeit und die „Erlösung“ vom „Hamsterrad“ der traditionellen Banken, in deren Fängen der durchschnittliche Kreditnehmer ein Leben lang gefangen bleibt. Krypto-Währungen bieten Menschen, wie gesehen, auf der ganzen Welt Zugang zu Finanzdienstleistungen, unabhängig von ihrer geografischen Lage oder sozialen Schicht und eine aufgrund der Limitierung bestehende Geldwertstabilität, die eine finanzielle Konsolidierung auf allen Ebenen verspricht.
Auch die Kritik und der Widerstand, dem beide Phänomene ausgesetzt sind und waren, sind nicht unähnlich. Die katholische Kirche verurteilte die Reformation als gefährliche Häresie und verhängte den Bann über Luther, während viele Regierungen und Finanzinstitute Bitcoin nach anfänglicher Nichtbeachtung lange Zeit als finanzielle Bedrohung betrachteten. In China ist das Bitcoin-Mining seit 2021 sogar gänzlich verboten, findet jedoch im Untergrund weiterhin statt. Sowohl die Reformation als auch Bitcoin, zwei Unbeugsame in der Arena des Konformismus, sammelten trotz der anfänglichen Missachtung eine beeindruckende Gefolgschaft um sich. Ihre bloße Existenz stellte und stellt eine stumme Herausforderung an die etablierte Ordnung dar und beide entfachten bedeutende Umwälzungen. Während die Reformation Thesen an Kirchentüren nagelte, setzte Bitcoin einen Code in die Welt, der das Finanzuniversum auf den Kopf stellte. Man könnte sagen, sie haben das „rebellische Gen“ gemeinsam – eins im Dienst der Seelen und das andere im Dienst des Geldes.
Ist Bitcoin also eine pseudoreligiöse Bewegung mit „Zügen einer eschatologischen Naherwartung“, wie es der Bitcoin-Anhänger und Feuilletonist Ijoma Mangold selbstironisch in seinem sehr lesenswerten Bestseller „Die orange Pille. Warum Bitcoin mehr als nur ein neues Geld ist“ formuliert? Gewiss nicht. Dennoch: „In Bitcoin steckt viel utopische Energie“ (I. Mangold, ebd., 47). In Zeiten apokalyptischer Endzeiterwartungen bietet der Bitcoin obendrein ungeahnte Chancen, der Finanzexperte und YouTube-Influencer Marc Friedrich spricht sogar von der „größten Chance aller Zeiten“, die der größte Vermögenstransfer der Menschheitsgeschichte mit sich bringen werde.
Martin Luther war beseelt von einem unbeirrbaren Pioniergeist, selbst wenn die Apokalypse des Weltenendes am Horizont lauerte. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, wollte er lieber ein „Apfelbäumchen pflanzen“ und eine blühende Zukunft für kommende Generationen erhoffen. Würde er heute vielleicht zum Zeichen der Hoffnung in Bitcoin investieren?
Der Autor ist Lehrkraft an einem niedersächsischen Gymnasium und schreibt hier unter Pseudonym.
Author: Jesus Franklin
Last Updated: 1699889522
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